Der dritte Wahlgang

Steffen Dittes
Landtag

Gegenwärtig wird in der Politik über eine Verfassungsänderung diskutiert, die besonderes journalistisches Interesse und Meinungsstreit zwischen politischen Akteuren hervorruft. Es geht um die seit 1994 bestehende Regelung zur Ministerpräsidentenwahl im Artikel 70 der Thüringer Verfassung.

Der besondere Charakter der Diskussion begründet sich dadurch, dass die Diskussion keine verfassungsrechtliche, sondern eine von politischen Interessen begleitete Debatte ist, die aufbaut auf die derzeit im Thüringer Landtag vorfindbaren Mehrheitsverhältnisse mit einer Minderheitsregierung und auf die auch nach der nächsten Landtagswahl erwartbaren schwierigen Mehrheitsverhältnisse, in denen die Bildung einer klassischen Mehrheitsregierung mit inhaltlich nahestehenden Koalitionspartnern schwer vorstellbar ist. Der Stein des Anstoßes ist der dritte Wahlgang. In der Verfassung heißt es zur Wahl eines Ministerpräsidenten vollständig: „Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt. Erhält im ersten Wahlgang niemand diese Mehrheit, so findet ein neuer Wahlgang statt. Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält.“[1]Im Verfassungsrecht der Länder ist dies keinesfalls eine atypische Regelung, sie findet sich nahezu wortgleich in den Verfassungen von Berlin, Schleswig-Holstein und Brandenburg[2]. Das Meiststimmenprinzip in einem dritten oder weiteren Wahlgang findet sich aber auch in den Verfassungen von Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommerns, hier allerdings unter der Maßgabe, dass zwischen dem zweiten und dritten Wahlgang ein gescheiterter Auflösungsbeschluss liegen muss. (Übersicht über Regelungen ausgewählter Bundesländer)

Klarer Regelungsinhalt

Von einer Verfassungswidrigkeit dieser Regelung ist ebenso wenig auszugehen, wie auch nicht von einer Unklarheit hinsichtlich des Regelungsinhalts und -ziels. Die Formulierung sagt sehr eindeutig aus, dass in den ersten beiden Wahlgängen zum Ministerpräsidenten nur gewählt ist, wer die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Parlamentes erhält. Im dritten und ggf. auch weiteren Wahlgängen ist hingegen der Bewerber gewählt, der die meisten Stimmen auf sich vereint. Trotz auch vorhandener abweichender Minderheitsmeinungen ist die herrschende Rechtsauffassung sehr eindeutig. Im dritten Wahlgang zählen die Ja-Stimmen im Vergleich zueinander, eine Betrachtung von Nein-Stimmen entfällt. Der Kandidat mit den meisten Ja-Stimmen ist zum Ministerpräsidenten im dritten Wahlgang gewählt. Dabei sind zwei Besonderheiten besonders zu erwähnen. Tritt bei mindestens zwei Kandidaten bei den beiden stimmenstärksten Kandidaten eine Stimmengleichheit ein, sind weitere Wahlgänge durchzuführen, bis einer der Kandidaten die meisten Stimme auf sich vereint. Die Regelung beinhaltet also keine Begrenzung der Anzahl der Wahlen. Die zweite Besonderheit der Regelung ist die, die die gegenwärtige Diskussion veranlasst. Stellt sich nur ein Bewerber im dritten oder in einem der weiteren Wahlgänge zur Wahl, so ist dieser Einzelbewerber gewählt, sobald er nur eine Stimme aus den Reihen der Abgeordneten erhält. Und genau dieses zwar verfassungsrechtlich mögliche, aber in der politischen und parlamentarischen Praxis eher absurd anmutende Szenario, dass bei drei Wahlgängen zur Wahl eines Ministerpräsidenten nur ein Bewerber antritt, der bei ansonsten ausschließlich Nein-Stimmen nur eine, ggf. sogar nur seine eigene Stimme aus dem Parlament erhält, wird als Begründung für die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Klarstellung vorgetragen. Weiter wird vorgetragen, dass es „logisch und schlüssig“ erscheine, „dass ein Ministerpräsidentenkandidat in einem dritten Wahlgang mehr Ja als Nein-Stimmen brauche, um zum Regierungschef gewählt zu werden“[4].

Verfassungskonforme und bewusste Regelung

Doch was auf den ersten Blick „logisch und schlüssig erscheine“ ist es bei genauerem Hinsehen hingegen nicht. Auch die überwiegend Väter und wenigen Mütter der Thüringer Verfassung, handelten nicht unlogisch oder unbedacht, sondern voller Absicht, als sie den Artikel 70 genau so formulierten, wie er am 16. Oktober 1994 im Rahmen einer Volksabstimmung auch bestätigt wurde. Der damalige am Verfassungsentwurf beteiligte FDP-Fraktionsvorsitzende Dr. Andreas Kniepert führte vor dem Verfassungsausschuss im Dezember 2022 aus, dass die jetzige Vorschrift ganz bewusst und unter Ablehnung anderer möglicher Modelle geschaffen wurde, um sicherzustellen, dass es nach einem dritten Wahlgang in Thüringen auf jeden Fall einen gewählten Ministerpräsidenten gibt und somit eine neue, vom aktuell gewählten Landtag legitimierte Landesregierung.[5] Kniepert verwies darauf, dass es andere Vorschläge zur Regelung der Wahl des Ministerpräsidenten gegeben habe, die diskutiert, abgewogen, letztendlich aber abgelehnt wurden. Die Regelung im Artikel 70 Abs. 3 ist daher weder unlogisch noch unschlüssig, auch keine Oberflächlichkeit, sondern Ergebnis einer bewussten Abwägung verschiedener Wahlmodelle und mit einer klaren Rechtsfolge. Der dritte Wahlgang solle in jedem Fall mit einem demokratisch legitimierten Ministerpräsidenten enden. Oder anders ausgedrückt, das Parlament, wirklich aber jeder einzelne Abgeordnete, sollte nicht aus der Verantwortung entlassen werden oder sich selbst entlassen können, nach einer Landtagswahl für eine demokratisch legitimierte Landesregierung zu sorgen – unabhängig der mit dem Wahlergebnis aus Sicht von Parteien möglicherweise gesehenen (partei)politischen Schwierigkeiten bei der Bildung einer Landesregierung. Die Regelung unterstreicht und stärkt in diesem Sinne auch die Autorität des Souveräns, dem Wahlvolk, das dem Parlament ein Wahlergebnis und eine Sitzverteilung durch demokratische Wahl auferlegt hat, mit dem die gewählten Abgeordneten des Landtages verpflichtet sind, umzugehen.

Destruktive Mehrheit soll ausgeschlossen werden

Das führt in der Konsequenz auch dazu, dass mit der Regelung eine sogenannte destruktive Mehrheit, eine Mehrheit also, die ihre Mehrheit ausschließlich zur Verhinderung einer nach einer Landtagswahl neu bzw. wieder demokratisch legitimierten Landesregierung einsetzt, ausgeschlossen werden soll und auch wird. Dies wird insbesondere bei einer gegenüber dem Ein-Stimmen-Beispiel wesentlich wahrscheinlicheren Fallkonstellation nachvollziehbar. Eine Fallkonstellation, von der viele politische Beobachter in Thüringen glauben, dass sie 2024 mit der nächsten Landtagswahl wiederholt eintritt. Rot-Rot-Grün verfehlt wie bereits 2019 eine parlamentarische Mehrheit, die Koalitionen sowohl zwischen CDU und LINKE sowie zwischen CDU und AfD werden politisch ausgeschlossen, eine Koalition zwischen LINKE und AfD ist ohnehin unvorstellbar, so dass nur die Bildung einer Minderheitsregierung zwischen mindestens drei Fraktionen möglich wird. Minderheitsregierungen sind in der parlamentarischen Demokratie zwar nicht der Regelfall, aber alles andere als ungewöhnlich oder gar mit dieser unverträglich. Manchmal beruhen diese auf mehr oder weniger verbindliche Absprachen mit einer quasi tolerierenden Opposition, aber auch dies ist nicht immer der Fall – wie Thüringen seit 2019 eindrucksvoll zeigt. Was aber führt zu einer Minderheitsregierung? Zunächst die Unmöglichkeit einer Mehrheit, sich im Parlament für eine konstruktiv arbeitende und stabile Regierung für die Dauer einer Legislatur zu vereinbaren. Dem entgegen sind Parteien in anderer Konstellation in der Lage, eine solche Koalition zu bilden, ihnen fehlt aber die parlamentarische Mehrheit. Um politischen Stillstand, mangelnde Legitimation einer weiterhin geschäftsführend im Amt befindlichen vorherigen Landesregierung oder aber immer neue Parlamentswahlen bis zum aus Parteiensicht erwünschten Ergebnis zu vermeiden, müssen also verfassungsrechtliche Mechanismen gefunden werden. Dies tut Artikel 70 Abs. 3 der Thüringer Verfassung. Er gibt zunächst der parlamentarischen Mehrheit zweimal die Chance, einen Ministerpräsidenten zu wählen. Bildet sich eine solche Mehrheit im Landtag nicht und hat damit eine Mehrheit die Wahl eines Kandidaten in zwei Wahlgängen vereitelt, soll nicht etwa primär die Legitimationshürde des schließlich zu wählenden Ministerpräsidenten herabgesetzt werden. Vielmehr soll mit der Formulierung „so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält“, einer nicht konstruktiv wirkenden Mehrheit im Parlament die Möglichkeit der dauerhaften Blockade einer Regierungsbildung genommen werden. Würde man im dritten Wahlgang wenn schon nicht an der absoluten Mehrheit aber weiterhin daran festhalten wollen, dass es zwingend mehr Ja- als Nein-Stimmen bedarf, würde im Fall der aufgrund der Unmöglichkeit anderer Regierungskonstellationen bestehenden Notwendigkeit einer Minderheitsregierung diese von der Zustimmung bzw. Enthaltung der nicht die Minderheitsregierung bildenden Abgeordneten abhängen. Eine verfassungsrechtlich zulässige und politiktheoretisch wie -praktisch nicht ungewöhnliche Minderheitsregierung würde demnach von der aktiven Unterstützung einer Parlamentsmehrheit angewiesen sein, die sie eigentlich nicht hat. Die Mehrheit hätte in dieser - derzeit wahrlich nicht unwahrscheinlichen - Konstellation die Möglichkeit, nach einer Wahl die demokratische Legitimation und damit die nach einer Wahl sich vollziehenden (Neu)Bildung einer (Minderheits)Regierung zu verhindern. Dass dieses Regelungsziel in der jetzigen Diskussion und angesichts der aktuellen Mehrheitsverhältnisse bei zumindest einigen CDU-Abgeordneten gerade zugrundeliegendes Motiv ist, ist eine m.E. nicht abwegige Unterstellung.

Systemwechsel mit Folgen

Die CDU-Fraktion hat dem Thüringer Landtag bereits einen Gesetzentwurf vorgelegt und schlägt für den dritten Wahlgang vor, folgende Formulierung in der Verfassung aufzunehmen: „Steht nur ein Bewerber zur Wahl, so muss er mehr Jastimmen als Neinstimmen auf sich vereinen.“[6] Eine Formulierung, der sich nach öffentlichen Verlautbarungen auch bereits einige SPD- und Grüne-Abgeordnete inhaltlich anschließen können. Daraus ist zunächst zu entnehmen, dass es keinerlei Bedenken darüber gibt, dass bei zwei Bewerbern im dritten Wahlgang derjenige gewählt ist, der die meisten Stimmen, also mehr als der andere, auf sich vereinen konnte. Warum an dieser Stelle nicht das mindestens genauso absurde Beispiel angeführt wird, dass ja dann ein Bewerber mit nur zwei Stimmen, darunter seiner eigenen gewählt wäre, wenn der andere lediglich eine, nämlich seine, Stimme erhält und alle anderen Abgeordneten mit Nein stimmen, wundert nur diejenigen, die hinter dem Ein-Bewerber-Eine-Stimme-Beispiel eine verfassungsrechtliche Argumentation um Legitimationsmehrheiten vermutet. Ebenso wenig wird angeführt, dass das höhere Stimmerfordernis bei einer Einzelbewerbung sehr leicht durch das Aufstellen eines Scheinbewerbers aus dem eigenen Lager umgangen werden könne. Die gefühlte politische Legitimation einer Wahl durch die alternative Auswahlmöglichkeit zwischen zwei Kandidaten steigt ohne Frage. Und genau dies ist ja auch die Regelungsabsicht der bestehenden Regelung. Die im ersten und zweiten Wahlgang eine erfolgreiche Wahl verhindernde Mehrheit soll gezwungen werden, selbst sich in Verantwortung mit einem eigenen Vorschlag zu begeben und sich als politische und personelle Alternative der Wahl stellen. Andreas Kniepert formulierte hierzu, dass jede Regelung zur Wahl des Ministerpräsidenten immer auch so gut ist, wie das gesellschaftspolitische Verantwortungsbewusstsein derjenigen, die mit dem Wahlverfahren praktisch umgehen[7]. „Wenn diese Motivation in der Verfassung abgeschafft würde, sei das der Anfang vom Ende der Demokratieakzeptanz im Land. Dann gebe es womöglich nach der nächsten Wahl keinen neu legitimierten, sondern nur einen geschäftsführenden Ministerpräsidenten. Es helfe nicht, die Legitimationserfordernisse so hoch anzusetzen, dass es kein Ergebnis mehr gebe.“[8] Aus dieser Bewertung wird ersichtlich, dass es keine formelle Regelungsfrage ist, die Vorschrift zum dritten Wahlgang „zu klären“, sondern einhergeht mit einem folgenreichen Systemwechsel der bislang in Thüringen gestalteten parlamentarischen Demokratie. Denn wer als Wahlerfordernis mehr Ja- als Nein-Stimmen im dritten Wahlgang festlegen möchte, muss sich zwangsläufig mit der Regelung der Folgen in dem Fall beschäftigen, wenn eine solche Mehrheit nicht zustande kommt. Die CDU-Fraktion hat bislang keinen Vorschlag für diesen Fall unterbreitet, so dass ihr konkreter Gesetzentwurf wenig als Diskussionsgrundlage taugt. Ihr Vorschlag, vor dem dritten Wahlgang eine Denkpause einlegen zu können, in der sich die Abgeordneten ihrer Verantwortung für ein ganz besonderes Maß an Abwägung, Kompromissbereitschaft und Verhandlungen“ nochmals bewusst werden sollen, ist ehrenwert, ersetzt aber keinesfalls erforderliche konkrete verfassungsrechtliche Regelungen nach einem gescheiterten dritten Wahlgang.

Unendliche Wahlwiederholungen drohen

Unabhängig des vorliegenden Gesetzentwurfes und aufbauend auf die Diskussion zur Neuregelung lediglich der in einem dritten Wahlgang erforderlichen Mehrheit erscheinen zunächst nur zwei Rechtsfolgen eines gescheiterten dritten Wahlganges vorstellbar. Naheliegend ist zum einen die Wiederholung eines oder mehrerer Wahlgänge, bis in einem Wahlgang ein Bewerber „die meisten Stimmen hat“ oder im Fall nur eines Bewerbers, dieser mehr Ja- als Nein-Stimmen hat. Die Möglichkeit unendlich möglicher Wahlen wird hier angelegt und ist in anderen parlamentarischen Demokratien durchaus nicht ungewöhnlich, wie uns die Wahl des Sprechers des US-Repräsentantenhauses im 15. Wahlgang im Januar 2023 zeigte. Ein Bundesland wäre in dieser Zeit auch nicht ohne Regierung. Die Regierung der vorangegangenen Legislatur bliebe weiterhin geschäftsführend im Amt, aber ohne erneute demokratische Legitimation. Ihr fehlt auch eine politische Legitimation, weil sie sich in ihren Entscheidungen nicht mehr auf die bei einer Wahl zustande gekommenen Mehrheitsverhältnisse stützen kann. Die Landesregierung wäre auf ein rein verwaltendes Handeln beschränkt und müsste auf Gestaltungsschritte, die dem Willen einer möglicherweise künftigen Landesregierung widersprechen, verzichten. Politischer Stillstand droht auch im Parlament, da nur schwer vorstellbar erscheint, dass eine die Bildung einer Regierung verhindernde Mehrheit inhaltlich gestaltende Entscheidung der von ihr politisch blockierten Minderheit mitträgt. Allenfalls wäre denkbar, dass eine parlamentarische Mehrheit, ohne selbst Regierungsverantwortung zu übernehmen, die Gestaltungsmehrheit im Parlament übernimmt, also ohne im funktionalen Sinne zu regieren aus dem Parlament heraus regiert. Die für eine repräsentative Demokratie grundlegenden Prinzipien von Transparenz und Verantwortungsklarheit sowie die Legitimationskette wären durchbrochen. Bliebe als Alternative nur die Auflösung des gerade gewählten Landtages und die Durchführung von Neuwahlen.

Es ist zunächst zu berücksichtigen, dass es in der Thüringer Verfassung keine Regelung gibt, wie schnell nach einer Wahl der erste Wahlgang einer Ministerpräsidentenwahl durchgeführt werden soll. Dies wird allein durch das Ausüben des Vorschlagsrechtes einer Fraktion bestimmt. Die dadurch eintretenden Effekte wie im vorangegangenen Absatz beschrieben treffen für den Zeitraum bis zum ersten Wahlgang für alle drei Modelle (Beibehaltung des Meiststimmenprinzips, Wiederholung der Wahlgänge, Neuwahl des Landtages) zu. Im Falle der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Neuwahl nach einem gescheiterten dritten Wahlgang ist dies aber von besonderer Bedeutung. Abgeordnete, die sich nicht in der Lage sehen, einen Ministerpräsidenten zu wählen, könnten dazu neigen, um eine sofortige Neuwahl und damit den Verlust des eigenen, vielleicht nur knapp gewonnenen Mandates zu vermeiden, die Durchführung einer Ministerpräsidentenwahl ebenso zu vermeiden, deren Scheitern verfassungsrechtliche Voraussetzung für eine Neuwahl wäre. Wahrscheinlicher ist aber, dass durch mindestens eine Fraktion das Wahlverfahren mit einem Wahlvorschlag „in Gang gesetzt“ werden würde. Die Wahl des Ministerpräsidenten scheitert, es kommt innerhalb einer Frist, die Verfassung Thüringens legt hier 70 Tage nahe[9], zur Neuwahl des Thüringer Landtages. Die vorherige Landesregierung bleibt weiterhin geschäftsführend im Amt. Nimmt man die Zeit von der Wahl des Landtages bis zur gescheiterten Ministerpräsidentenwahl, die Zeit bis zur erneuten Landtagswahl und die Zeit ab der Neuwahl bis zu einer (möglicherweise) erfolgreichen Ministerpräsidentenwahl zusammen, ist im günstigsten Fall von einem mindestens sechsmonatigen politischen Stillstand sowohl auf exekutiver als auch legislativer Ebene auszugehen. Mit den Erfahrungen aus der Zeit der Regierungsbildung 2019/2020 sowie denen aus den Krisenjahren 2020 bis heute ist das ein nur schwer vorstellbarer und nur schwerlich verantwortbarer Zustand. Zudem erscheint alles andere als sicher, dass sich Mehrheitsverhältnisse innerhalb kurzer Zeit durch Wählerentscheidung so verändern, dass Mehrheitskonstellationen problemlos möglich werden. Gänzlich ausgeschlossen ist dies zum Beispiel durch knappes Scheitern an oder Überwinden der 5%-Hürde aber nicht. Sollte sich – was wesentlich wahrscheinlicher ist – die grundsätzlichen Mehrheitsverhältnisse in der Wahl wiederholen, beginnt das Spiel erneut. Ausgang ungewiss. Der Rechtsfolge der Neuwahl nach einem gescheiterten dritten Wahlgang kann also vor allem entgegengehalten werden, dass das Parlament durch Unterlassen dem Souverän, dem Wahlvolk, das für die Parteiensystematik mit Abgrenzungs- und Unvereinbarkeitsbeschlüssen unbequeme Wahlergebnis mit der Aufforderung zurückgegeben wird, beim nächsten Mal doch für die Parteien „bequemer“ oder „besser“ zu wählen. Dies stellt m.E. ein dem Demokratieprinzip zuwiderlaufendes Prinzip dar, was hier gegebenenfalls etabliert wird. Natürlich sind Konstellationen in einem Parlament vorstellbar, die ein gemeinsames Arbeiten unmöglich machen und grundsätzlich ausschließen. Vor diesem Umstand verschließt sich die Thüringer Verfassung nicht und regelt in Artikel 50 Abs. 2 die Möglichkeit der Selbstauflösung des Parlamentes mit abschließender Neuwahl. Nur dafür normiert sie eine Mehrheit von zwei Drittel der Mitglieder des Landtages als Quorum. Diese sehr hohe Hürde ist verfassungsrechtlich begründet und soll Willkür und das Nutzen von vermeintlichen Sympathiewellen ausschließen und die Stabilität und Effizienz der Arbeit von Parlamenten und Regierungen sichern[10].

Vor diesem Hintergrund wäre auch eine Übernahme der Verfassungsregelungen aus Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen zu bewerten, die durchaus eine weitere Regelungsmöglichkeit darstellen kann. Danach hat der Landtag, nachdem in zwei Wahlen keine Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder sich auf einen Ministerpräsidenten einigen konnte, die Pflicht, über seine Auflösung zu entscheiden. Ausreichend für die Auflösung des Parlamentes wäre wiederum die Mehrheit der Mitglieder. Damit solle sich die Parlamentswahl de facto zwischen der Wahl eines Ministerpräsidenten oder der Durchführung von Neuwahlen entscheiden. Verhindert eine Mehrheit hingegen beides, so wird im dritten Wahlgang zum Ministerpräsidenten gewählt, wer die meisten Stimmen erhält. Die Einwände, sich mit einer Auflösung des Parlamentes seiner Verantwortung zum Umgang mit auch schwierigen Wahlergebnissen entziehen zu können, gelten allerdings auch hier. Mit dem vergleichsweisen niedrigen Quorum der Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder steigt zudem die Missbrauchsanfälligkeit. Gerade nach dem nach mehreren Wochen festgestellten Scheitern der Bildung einer Mehrheitsregierung könnte die wechselseitige Schuldzuschreibung in Äußerung und Wahrnehmung dazu beitragen, dass in dieser Phase durch Neuwahlen politische Stimmungen genutzt werden sollen.

Demokratische Verfasstheit ohne parteipolitische Zielstellung debattieren

Historische Erfahrungen waren auch für die Ausgestaltung des Artikels 70 der Thüringer Verfassung maßgeblich. Selbstverständlich ist es zulässig und regelmäßig auch geboten, verfassungsrechtliche Regelungen auf ihre Wirkung in einer sich verändernden Gesellschaft mit sich verändernden Erwartungen an demokratische Mitwirkung zu überprüfen, wie dies beispielsweise in den Debatten zur Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch direktdemokratische Elemente der Fall ist. Dies trifft auch auf die Regelungen zur Wahl eines Ministerpräsidenten, zur Abwahlmöglichkeit und Vertrauensfrage als auch für das Selbstauflösungsrecht des Landtages zu. Notwendig ist aber dabei, den den Vorschlägen innewohnenden Systemwechsel mit gravierenden Folgen für die Legitimationsketten und dem Wechselverhältnis zwischen Souverän und Repräsentant nicht hinter Begriffen wie dem der „notwendige Klarstellung“ zu verstecken. Denn es geht nicht um eine Klarstellung einer unklaren Regelung zum dritten Wahlgang. Es geht bei den Vorschlägen um einen grundsätzlichen Systemwechsel in der Thüringer Verfassung, der aus meiner Sicht erhebliche Nachteile mit sich bringt. Eine Diskussion, ob gegebenenfalls Vorteile überwiegen, eine Diskussion über die verfassungsrechtliche Regelung die Verfasstheit der parlamentarischen Demokratie betreffend, sollte in jedem Fall losgelöst von gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen, bevorstehenden Wahlen und davon abgeleiteten (partei)politischen Interessen geführt werden. Die Verfassung ist nicht der Spielplatz politischen Aktionismus. Insofern bietet sich für die Frage einer möglichen Neuregelung der Ministerpräsidentenwahl auch in Ermangelung eines wirklich konkreten und durchdachten Vorschlages der Zeitraum nach der nächsten Landtagswahl und nach einer erfolgreichen Ministerpräsidentenwahl und zeitlich weit vor den dann wiederum turnusmäßig folgenden Wahlen wohl eher an, als die letzten 17 Monate der laufenden Legislaturperiode.

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[1] Thüringer Verfassung, Artikel 70 Abs. 3

[2] Die Regelung in Brandenburg unterscheidet sich insofern, dass die Wahl innerhalb von drei Monaten nach der Konstituierung des Landtages zustande gekommen sein muss, anderenfalls gilt der Landtag als aufgelöst.

[3] Eine Übersicht über Regelungen zur Ministerpräsidentenwahl in den Verfassungen ausgewählter Bundesländer findet sich im Anhang zu diesem Beitrag.

[4] Thüringer Allgemeine, 09.03.2023

[5] https://www.die-linke-thl.de/aktuelles/nachrichten/detail/linke-gesamtpaket-liegt-als-r2g-cdu-aenderungsantraege-schon-verfassungsausschuss-modellwechsel-bei-mp-wahl-problematisch/

[6] https://parldok.thueringer-landtag.de/ParlDok/dokument/77482/fuenftes_gesetz_zur_aenderung_der_verfassung_des_freistaats_thueringen_reform_des_staatsorganisationsrechts.pdf

[7] https://www.die-linke-thl.de/aktuelles/nachrichten/detail/linke-gesamtpaket-liegt-als-r2g-cdu-aenderungsantraege-schon-verfassungsausschuss-modellwechsel-bei-mp-wahl-problematisch/

[8] Anhörung des Verfassungsausschusses in öffentlicher Sitzung am 2.Dezember 2022

[9] Nach Artikel 50 Absatz 2 der Thüringer Verfassung muss nach einer Auflösung des Landtages durch Beschluss von 2/3 der Mitglieder des Landtages innerhalb von 70 Tagen der Landtag neu gewählt werden.

[10] Die Verfassung des Freistaats Thüringen; Linck, Baldus, Lindner, Hopfe, Poppenhäger, Ruffert (Hrsg.), 2013, Nomos