Es ist schon einmal passiert

Steffen Dittes

Regelmäßig wird in Thüringen über die verfassungsrechtliche Regelung zur Wahl eines Ministerpräsidenten diskutiert. Dies geschieht vor allem dann, wenn vor einer Ministerpräsidentenwahl der Kandidat sich der eigenen Koalitionsmehrheit nicht sicher sein kann oder – wie im Jahr 2020 – eine Minderheitsregierung auf den Weg gebracht wird. Auch im Vorfeld der im Jahr 2024 unausweichlich anstehenden Wahl eines Ministerpräsidenten nach der Wahl des Landtages am 1. September nimmt die Diskussion erneut Fahrt auf. Aktuell nutzte der SPD-Landesvorsitzende, Georg Maier, den Landesparteitag seines Landesverbandes, um anzukündigen, „mit allen demokratischen Parteien über eine Änderung der Thüringer Verfassung sprechen“ zu wollen. „'Wir müssen unsere Demokratie, wir müssen unsere Verfassung wetterfest machen. ...', begründet Maier seine Initiative. Im besonderen Fokus steht dabei der Artikel 70 der Thüringer Landesverfassung und eine eindeutige Klarstellung zur Wahl des Ministerpräsidenten im dritten Wahlgang." Maier suggeriert damit, dass einerseits die Verfassung nicht „wetterfest“ und die Regelung zur Wahl eines Verfassungsorgans durch ein anderes Verfassungsorgan nicht klar geregelt sei. Durch diese Behauptungen wird der Demokratieakzeptanz ein Bärendienst erwiesen. Denn durch das ständige Behaupten einer angeblichen Unklarheit bei der Wahl des höchsten Amtes in einem Bundesland – in diesem Fall sogar durch den stellvertretenden Ministerpräsidenten selbst - wird die für das Funktionieren der Demokratie grundlgende gesellschaftliche Anerkennung, dass eine Regierung sich legitim im Amt befindet, geschwächt. Völlig ohne Not. Denn das Meiststimmenprinzip ist nicht unklar und einer mit Thüringer Regelung vergleichbare Regelung zum dritten Wahlgang gibt es in zahlreichen Bundesländern. Auch dort wird gelegentlich die Regelung politisch hinterfragt und in Zweifel gezogen. Eines eint dabei die unterschiedlichen Diskussionen bislang. Die Zweifel werden immer von denen geäußert, die nicht auf der Seite der regierungsbildenden Parteien stehen, und werden von denen zurückgewiesen, die gerade einen Ministerpräsidenten zur Wahl stellen. Und da Wahlergebnisse auch die Verortung der Parteien regelmäßig verändern, verändern sich auch die Positionen der Parteien regelmäßig. Auch ein mögliches Indiz, dass die Diskussion wohl eher politisch als verfassungsrechtlich intendiert ist. Es geht immer um die Delegitimierung eines noch zu wählenden Amtsinhabers. Dabei werden praktisch absurde, aber eben theoretisch nicht auszuschließende Wahlkonstellationen und -ergebnisse konstruiert oder ein Parlament mit einem Kaninchenzüchterverein verglichen. Delegitimiert wird dabei letztlich immer die Institution und das demokratische System im Ganzen. In diesem Fall von Demokraten selbst. Das ist bitter. Nun kann es Gründe geben, die Ministerpräsidentenwahl auch anders als gegenwärtig in Thüringen zu regeln, aber es gibt eben auch viele Gründe, die im vollen Bewusstsein und im Wissen um ihre Wirkung 1994 in die Thüringer Verfassung aufgenommene Regelung so zu belassen wie sie ist. Warum letzteres aus meiner Sicht aus verfassungsrechtlichen, demokratietheoretischen als auch -praktischen Erwägungen vorzuziehen ist, habe ich im März 2023 in einen Beitrag dargestellt.

Nun kommt in der Debatte aber eine weitere Ebene neu hinzu, die Maier offensichtlich mit den Worten „nicht wetterfest“ aufgreift. Es geht um die Frage, die der Verfassungsblog in den Mittelpunkt seines Thüringen-Projektes gestellt hat: „Was wäre wenn?“. Der Verfassungsblog will die Antwort auf die Frage suchen, was passiert, wenn die extrem rechte AfD staatliche Machtmittel in die Hand bekommt. Eine Frage, die viele Menschen angesichts des Umfragehochs der AfD und vor dem Hintergrund der das politische Klima zwischen den Parteien in Thüringen immer noch prägende Erfahrung des 5. Februar 2020, als CDU und FDP sehenden Auges und bewusst der „Leimrute“ der AfD folgten und eine Staatskrise auslösten, bewegt. Und schlicht machen sich viele nachvollziehbar Sorgen, wenn droht, dass Rechtsextreme politische Macht ergreifen und die Gegenwehr insbesondere in der konservativen Mitte dagegen als unzureichend wahrgenommen wird.

Auch Maier plädiert nun für eine Regelung, bei der auch im dritten Wahlgang ein Kandidat nicht gewählt wird, wenn in diesem Wahlgang bei nur einem Kandidat dieser mehr Nein- als Ja-Stimmen hat. So solle schließlich ein Ministerpräsident der AfD verhindert werden. Was sich auf den ersten, aber auch wirklich nur auf den ersten Blick logisch anfühlt (ich verweise hier noch einmal auf meinen  Beitrag „Der dritte Wahlgang“) ist bei genauerer Betrachtung ein Armutszeugnis für die Verantwortung tragenden politischen und demokratischen Akteure. Denn wie auch bei allen weiteren Betrachtungen in diesem Beitrag geht auch dieses Beispiel davon aus, dass die AfD keine einfache Mehrheit im Thüringer Landtag nach der Wahl innehat. Um in diesem Fall einen Ministerpräsidenten der AfD zu verhindern, braucht es lediglich eine klare Haltung der Demokraten. Sie haben nur eine Aufgabe, einen Ministerpräsidenten aus den Reihen der demokratischen Parteien zu wählen. Aber offensichtlich traut Maier den demokratischen Parteien das nicht zu und stellt sich vor, dass im dritten Wahlgang die demokratischen Parteien entweder keinen eigenen Kandidaten mehr aufstellen (anderenfalls würden ja Nein-Stimmen entfallen) oder sich die demokratischen Parteien nicht auf einen Kandidaten einigen, sondern die Stimmen aus dem demokratischen Lager sich auf mehrere Kandidaten verteilen, die aber jeweils unter dem Stimmenergebnis des AfD-Kandidaten liegen. Es ist ein Armutszeugnis, heute vom Scheitern der Demokraten zum Schaden der Demokratie auszugehen und daran eine Verfassungsregelung ausrichten zu wollen.

Auch die Initiatoren des Thüringen-Projekts haben in einem SPIEGEL-Gastbeitrag diese Frage erörtert und dabei auch Bezug genommen auf ein Papier der vorherigen SPD-Landesgeschäftsführerin und eine weitere Dimension hinzugefügt. Was wäre, wenn neben dem Scheitern der Demokraten bei der Wahl des Ministerpräsidenten dann noch ein AfD-Landtagspräsident die „unklare“ (sic!) Verfassungsregelung zugunsten des AfD-Kandidaten auslegt und diesen zum Ministerpräsidenten ernennt? Wäre – so wird in den Raum gestellt – eine Veränderung in der Verfassung nicht sinnvoll, um dieser Gefahr vorzubeugen? Aber auch in Bezug auf das Amt des Landtagsprädienten wäre es aus demokratischer Perspektive vielleicht eher angezeigt, statt über Regeländerungen zum Schutz der Demokratie im Falle eines AfD-Landtagspräsidenten sich frühzeitig klar zu positionieren und Haltung zeigend zu erklären, dass in einem Parlament, in dem eine demokratische Mehrheit besteht, ein Abgeordneter einer extrem rechten Partei nicht und niemals zum Landtagspräsidenten gewählt wird. Bei weitem keine revolutionäre Tat, sondern eine demokratische Selbstverständlichkeit, möchte man meinen. Denn die persönliche Stimmabgabe in einer Wahl orientiert sich nämlich nicht mehr an der Demokratie als Regelsystem, vielmehr an der Demokratie als Wertesystem. Die Diskussion lässt aber Zweifel zurück, was eigentlich noch beunruhigender ist, als das zu erwartende Wahlergebnis der AfD.

Auch unabhängig der Regelung zur Ministerpräsidentenwahl wird im poltischen Raum diskutiert, ob und wie durch Änderungen der Verfassung und einfacher Gesetze die Demokratie vor der AfD zu schützen sei, wenn dieser mehr als ein Drittel der Abgeordneten eines Parlamentes stellt. Natürlich muss auch hier am Anfang die demokratische Selbstverpflichtung stehen, einerseits alles in der eigenen Politik, der politischen Kommunikation und Auseinandersetzung zu unterlassen, was die AfD diesem Ziel näher bringt und andererseits alles zu tun, was dies verhindern kann. Da letztlich aber die Entscheidung von in Thüringen ungefähr 1,7 Millionen Wahlberechtigten abhängt, ist das Ergebnis dieses Bemühens nicht so einfach zu erreichen wie etwa bei der Abstimmung von 88 Abgeordneten bei der Wahl eines Ministerpräsidenten und eines Landtagspräsidenten. Das heißt in der Konsequenz, man muss sich mit diesem Szenario beschäftigen.

Wenn über Gesetz- und Verfassungsänderungen zum Schutz der Demokratie im Fall des Eintretens eines solchen Szenarios nachgedacht wird, geht es zwangsläufig immer um den Abbau von Mitwirkungsrechten von Minderheiten an demokratischen Prozessen. Aber auch diese kennzeichnen ein demokratisches System, weil Demokratie eben mehr ist, als nur der Umstand, dass die Mehrheit entscheidet. Letztlich wären solche Änderungen eine Verengung der Demokratie in genau diese Richtung. Obwohl der Kern der Demokratie, das Mehrheitsprinzip, unberührt bliebe, würde dennoch ein Weniger an Demokratie herrschen. Demokratieabbau zum Schutze der Demokratie? Eine schlechte Idee, sollte man als Demokrat denken.

Ist die Demokratie dann aber wehrlos? Keinesfalls und ihre Wehrhaftigkeit bleibt auch nicht beschränkt auf die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung. Die Autoren haben der bundesrepublikanischen Demokratie die Instrumente in das Grundgesetz geschrieben. Sie haben das Grundgesetz nicht wehrlos gestellt. Sie sind gerade eben nicht davon ausgegangen, dass eines Tages, wenn sich eine Partei daran macht, die Demokratie von innen anzugreifen und zu zerstören, sozusagen im letzten Moment eine gerade noch bestehende demokratische Mehrheit die Regeln verändert, um die Wirksamkeit einer erstarkten und starken demokratiegefährdenden Partei einzugrenzen. Die Instrumente zum Schutz der Demokratie sind von Beginn an da und stehen nicht ohne Grund in der Verfassung. Es war wahrscheinlich auch nicht in der Absicht der Verfasser liegend, sie keinesfalls anzuwenden, wenn ihre Anwendung in Frage kommen wird. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Artikel 21 regelt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei, die das Verbot einer Partei zur Folge hat, und Artikel 18 regelt die Verwirkung von demokratischen Rechten, insbesondere der politischen Mitwirkungsrechte. In beiden Fällen hat das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden, also eine Institution, die unabhängig von politischen Mehrheiten und politischem Einfluss auf der Grundlage der Verfassung anerkannt entscheidet. Ein Verfahren zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit kann auch nur durch Antrag der Bundesregierung, des Bundestages oder des Bundesrates eingeleitet werden. In der Regel also durch Institutionen, die nur durch die Einigung von mehreren politisch unterschiedlichen Akteuren zu einer entsprechenden Entscheidung kommen können. Denn es ist unstrittig und unzweifelhaft auch richtig, dass ein Parteiverbot als politischen Gründen oder Zielen weder angestrengt werden noch ergehen darf. Artikel 21 und Artikel 18 stellen unpolitische, aber die Prinzipien der Verfassungsdemokratie schützende Instrumente dar. Wenn dies aber so ist, dann darf - wie ein Verbotsverfahren nicht in politischer Absicht angestrengt werden darf - ein Verbotsverfahren auch nicht in politischer Absicht ausgeschlossen werden. Denn dies würde die zum Schutz der Demokratie verankerten Instrumente ad absurdum führen und die Verfassungsdemokratie tatsächlich schutzlos machen. Oder anders gesagt, die Wirksamkeit der Schutzinstrumente für die Demokratie würde von politischen Abwägungen und Einschätzungen abhängen. Das hat man sich mit der Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik und der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, die durch viele gesellschaftlichen Akteure begünstigt und befördert wurde und die zunächst auch von einigen mit der politischen Fehleinschätzung hinsichtlich des Ausmaßes des zerstörerischen Potentials des Nationalsozialismus begleitet wurde, bei der Formulierung des Grundgesetzes geradezu nicht vorgestellt.

Auch wenn für jeden Demokraten bei Verboten ein Störgefühl und eine abwehrende Reaktion entstehen muss, ist doch die Diskussion zu führen, warum wir die bestehenden Instrumente nicht nutzen, aber den Abbau von demokratischen Rechten durch Änderung der bestehenden demokratischen Regelungen bereit sind zu diskutieren. Immer wieder auftauchendes Argument dabei ist die große Anzahl der Wähler:innen und die erwartete Reaktion dieser auf ein Verbot. Einerseits hängt auf der inhaltlichen Ebene die  Gefährdung der Demokratie nicht davon ab, wie viele Wähler:innen verfassungswidrige Ziele teilen und unterstützen. Es sind die Ziele selbst, die die Gefahr für die Demokratie beschreiben. Andererseits hängt das reale Risiko für die Gefährdung der Demokratie tatsächlich von der Anzahl der Wähler:innen ab, sie nimmt mit deren Anzahl zu, aber keinesfalls ab. Diesen Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht im NPD-Verbotsverfahren insofern deutlich gemacht, dass ein Verbotsantrag einer verfassungswidrigen Partei keinen Erfolg hat, wenn diese nicht wirkmächtig und real durchsetzungsfähig ist. Umgekehrt bedeutet dies, je näher eine verfassungswidrige Partei der Durchsetzung ihrer verfassungswidrigen Ziele beispielsweise durch Wahlerfolge kommt, umso wahrscheinlicher wird ein Verbotsantrag Erfolg haben. Es mag für das demokratische Gefühl störend erscheinend, aber die Verfassungsdemokratie des Grundgesetzes sieht nicht ihre eigene Abschaffung durch eine Mehrheit vor. Sie will, weil sie das Entstehen einer solchen Mehrheit als Möglichkeit nicht ausschließt , eine solche verhindern bevor sie entsteht. Daher sind die Regelungen in der Verfassung keinesfalls nur mögliche Handlungsoptionen, sie stellen vielmehr Handlungsverpflichtungen für die in einer Demokratie Verantwortung tragenden politischen Akteure dar. Insofern machen es sich Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung derzeit zu einfach, die Möglichkeit der Einleitung eines AfD-Verbotsverfahrens ohne konkrete Prüfung der möglichen verfassungsrechtlichen Gründe für ein Verbotsverfahren so wie die Bundesinnenministerin als „eine solch einfache Antwort“ mit Hinweis auf die komplexe Problemlage abzulehnen.

Im Bund wie auch in Thüringen scheint derzeit noch keine zufriedenstellende Antwort der politischen Akteure auf der administrativen Ebene gefunden worden zu sein, wie auf die bestehenden Gefahren mit geeigneten demokratischen Mitteln und Instrumenten reagiert werden kann. Vorschläge und deren Begründungen, die die Demokratieakzeptanz und notwendige gesellschaftliche Legitimation in Frage stellen, gehören mit Sicherheit nicht dazu. Viel weiter sind da zivilgesellschaftliche Akteure, die beispielweise wie die Omas gegen Rechts in Thüringen die Sitzungen des Landtages mit einer Mahnwache begleiten. Denn unzweifelhaft ist richtig, dass die Auseinandersetzung um politische Inhalte und gesellschaftliche Vorstellungen und die Immunisierung einer übergroßen Mehrheit in der Gesellschaft gegen demokratiefeindliche Ziele der wirksamste Schutz der Demokratie ist. Aber wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, wenn dieser Weg alleinig zu scheitern droht. Es ist schon einmal passiert.

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Hinweise:

Der Volksverpetzer, ein gemeinnütziger Anti-Fake-News-Blog, hat eine an den Bundesrat gerichtete Petition zur Prüfung eines AfD-Verbots gestartet und auf seinen Seiten verschiedene Aspekte eines Verbotes diskutiert und u.a. mit den Beiträgen "AfD-Verbot: Die wehrhafte Demokratie verzichtet auf ihre Waffen" von Kristin Pietrzyk und "Du bist gegen die Prüfung eines AfD-Verbots? Das solltest du lesen" von Thomas Laschyk in meinem Beitrag angesprochene Fragestellungen bereits thematisiert.

Heribert Prantl hat sich am 2. November 2023 in seinem Beitrag "Ein Fall für Artikel 18" bereits mit der Frage der Anwendung dieses bestehenden Instruments beschäftigt.