Mehrheitsverhältnisse im Thüringer Landtag als Herausforderung für die Demokratie

Steffen Dittes

DPA vermeldet am 28. April 2023: Die Thüringer AfD-Fraktion hat Rot-Rot-Grün im Landtag zu einer Mehrheit für die Änderung eines Untersuchungsausschusses zur Personalpolitik der Landesregierung verholfen. Die Abgeordneten von CDU und FDP stimmten am Freitag gegen die Änderung.“ Die CDU nutzte dieses Abstimmverhalten für eine Pressemitteilung der Empörung. Anlass genug, auch aus Rot-Rot-Grüner Sicht einen Blick auf die Mehrheitsverhältnisse und Abstimmungen im Landtag zu richten und politisch einzuordnen und vor dem Hintergrund zweier politischer Ziele zu bewerten. Erstens, die extrem rechte AfD darf keine Gestaltungsmacht über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Thüringen erhalten und zweitens, das Parlament muss arbeits- und handlungsfähig und die Fraktionen müssen politisch initiativfähig bleiben können.

LINKE, SPD und Grüne haben im Thüringer Landtag in Summe 42 Stimmen. Die CDU hat zusammen mit der parlamentarischen Gruppe der FDP 25 Stimmen. Eigentlich eine klare Sache und ein zu akzeptierendes Wahlergebnis im Verhältnis der demokratischen Fraktionen zueinander, wenn man die politische Absicht ernst nimmt, die AfD bei Mehrheitsbildungen grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Dies ist allerdings praktisch kaum möglich, aber auch kein politischer Konsens im Thüringer Landtag. Zur Erinnerung: bis zum Sommer 2021 galt in Thüringen ein zwischen LINKE, SPD und Grüne einerseits sowie der CDU andererseits ausgehandelter sogenannter Stabilitätspakt. Dieser beinhaltete, dass Mehrheitsbildungen nur miteinander vorgenommen werden. Eine Neuauflage lehnte die CDU ebenso ab wie eine gemeinsame Verabredung, die AfD nicht zum Mehrheitsbeschaffer zu machen.

In der Folge nutzte die CDU mehrfach und regelmäßig die 19 Stimmen der AfD für Mehrheiten, um destruktiv Entscheidungen zu verhindern oder konstruktiv Ausschussüberweisungen, Anträge und bislang auch ein Gesetz zu beschließen. Darunter ein Antrag, der mit einem beabsichtigten Verbot der ‚Gendersprache‘ ein Narrativ rechten Kulturkampfes aufnahm oder ein Gesetz, das den Kinder- und Jugendschutz im Zusammenhang mit Spielhallen reduzierte. Zuletzt nutzte die CDU in der Plenarsitzung am 27. April 2023 eine Mehrheit mit der AfD, um den Antrag der CDU „Kein Ausstieg aus der Kernenergie ohne funktionierende Alternativen - Energieversorgung auch für Thüringen sichern" gegen den Willen der Koalitionsfraktionen in den Ausschuss zu überwiesen.

In der Sitzung des Landtages im März 2023 skandalisierte die CDU, dass die Koalition eine Änderung der Kommunalordnung – hier die Ermöglichung öffentlicher Ausschusssitzungen – mit den Stimmen der AfD beschlossen habe. Die CDU übersah hierbei, dass es bei der Abstimmung des Gesetzes gar nicht auf die Stimmen der AfD ankam. Eine Mehrheit des Landtages hätte es selbst dann für den Gesetzentwurf gegeben, wenn die AfD-Abgeordneten dagegen gestimmt hätten, da die FDP sich enthalten und CDU-Abgeordnete bewusst vor der Abstimmung den Saal verließen.

Am 28. April nun skandalisierte die CDU die Abstimmung, über die auch die DPA zuvor berichtete: „Rot-Rot-Grün und AfD stimmen gemeinsam für Beschneidung der Minderheitenrechte“. Das der Vorwurf in der Sache (Beschneidung der Minderheitenrechte) falsch ist, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Richtig ist, dass die AfD einem Antrag der Koalitionsfraktionen zustimmte, den CDU und FDP ablehnten.

Der Versuch der Skandalisierung folgt nicht der Absicht, die AfD grundsätzlich von Mehrheitsbildungen fernzuhalten, sondern hat offenkundig das Ziel, Rot-Rot-Grün mindestens Doppelstandards vorzuwerfen, im besten Fall zu diskreditieren und in der Folge auch in Zukunft selbst die AfD immer häufiger als Gestaltungskraft in Thüringen zu nutzen. Das gelinge nach Auffassung der CDU dann, wenn Mehrheitsbeschlüsse mit der AfD kein Sündenfall, kein Politikum mehr darstellen, sondern als demokratisch normal und akzeptiert angesehen werden, zumal wie behauptet auch von Rot-Rot-Grün genutzt.

Deswegen macht es Sinn, sich näher mit dieser politisch misslichen Situation im Thüringer Landtag genauer zu beschäftigen. Zunächst mit der Frage, wie grundsätzlich vermieden werden kann, dass die AfD zum – ganz gleich in welcher Form – Mehrheitsbeschaffer wird. Ganz einfach. Indem sich die demokratischen Fraktionen und die parlamentarische Gruppe bekennen, dass Sachverhalte nur zur Abstimmung gelangen, bei denen LINKE, SPD, Grüne, CDU und die FDP gleichlautend abstimmen oder sich ein Teil maximal enthält und die verbliebenen Ja-Stimmen aus diesem Kreis die Anzahl der AfD-Abgeordneten übersteigt. Dieses Bekenntnis würde dazu führen, dass jede Vorlage und das jeweilige Abstimmungsverhalten zunächst geeint werden muss. Die Folge davon wäre, dass sowohl die demokratische Opposition, aber auch die Regierungsfraktionen ein Veto-Recht gegenüber den jeweils anderen besitzen würden. In der Konsequenz würde dies de facto den Regierungs- oder Koalitionseintritt der CDU und der FDP bedeuten. Ein eher unvorstellbares Szenario.

Nicht weiter betrachtet werden soll ein Szenario, in dem Fachpolitiker:innen aller demokratischen Fraktionen aus der Sache heraus, nicht aber aufgrund einer allgemeinen politischen Verabredung versuchen, einen Konsens zu erreichen, obwohl selbst vielfach auch im Thüringer Landtag zu erleben. Zuletzt bei zwei Gesetzentwürfen zur Änderung des Kindergartengesetzes ebenso in der Sitzung des Landtages am 28. April.

Wenn ein verabredet immer gleichartiges Abstimmverhalten aber nicht realistisch ist, ist zwangsläufig regelmäßig von variablen und unterschiedlichen Abstimmverhalten auszugehen. Dabei ist es auch regelmäßig möglich, dass - quasi zufällig – die demokratischen Fraktionen gleich abstimmen. In einem solchen Fall ist das Abstimmverhalten der AfD unerheblich. Aber eben nur in diesem Fall, in allen anderen Fällen kommt dem AfD-Abstimmverhalten eine einflussnehmende Rolle zu. Diese Rolle ist aber nicht in jeder Situation gleichwertig in der besonderen Mehrheits- und Regierungskonstellation im Thüringer Landtag.

Die Regierungsfraktionen haben im Thüringer Landtag keine Mehrheit. Der Umstand, dass LINKE, SPD und Grüne mit 42 von 90 Abgeordneten aber dennoch die Regierung stellen, belegt, dass es keine andere wirksame Mehrheit und auch keinen größeren Minderheitenblock im Parlament gibt. Es gibt eine Opposition, die selbst über keinen inneren Zusammenhalt verfügt und die nicht in der Lage ist, eine Regierung aus ihrer rechnerischen Mehrheit heraus zu bilden. Einladungen an CDU und FDP, um über alternative Konstellationen unter Einschluss einer der beiden Parteien zu reden, schlugen diese im Jahr 2019 mehr oder weniger aus. Sie ergaben sich letztlich nach der politisch verheerenden Kemmerich-Wahl sozusagen ihrem Wahlschicksal, in der Legislaturperiode bis 2024 in der parlamentarischen Opposition neben einer Minderheitskoalition zu verbleiben. Aufgrund der Ereignisse um den 5. Februar ging die CDU den bereits benannten Stabilitätspakt ein. Nach dem Nichtzustandekommen der vereinbarten Auflösung des Landtages lehnte die CDU eine Verlängerung oder Neuauflage ab.

Aus diesen Rollen, hier die Regierungsfraktionen, dort die parlamentarische (und demokratische) Opposition, erwachsen auf beiden Seiten besondere Verantwortungen. So können sich die Regierungsabgeordneten beispielsweise bei der Haushaltsaufstellung nicht wie Oppositionsabgeordnete verhalten, sondern stehen beispielsweise in der Verantwortung, einen Haushalt konstruktiv bis zur Beschlussfassung zu bringen und dabei zwangsläufig politische Schwerpunktsetzung gegenüber regierungsimmanenten Sachzwängen hinten zumindest teilweise zurückzustellen. Mit anderen Worten, Regierungsabgeordnete einer Minderheitsregierung können die Verantwortung für den Haushalt nicht alleinig der Opposition übertragen, selbst wenn diese die parlamentarische Mehrheit darstellt. Umgekehrt werden auch Oppositionsabgeordnete weiterhin in politischer Opposition zur Regierung Unterschiede herausarbeiten, den Finger in die Wunde legen und zugespitzt Forderungen erheben. Aus Oppositionsabgeordneten werden bei einer Minderheitskonstellation keine regierungstragenden Abgeordnete.

Diese Rollen folgen nicht allein den politischen Unterschieden, sondern sind Ausdruck der beschriebenen Mehrheitsverhältnisse zwischen LINKE, SPD und Grüne sowie CDU und FDP unter der Bedingung, dass im Landtag 19 Abgeordneter einer extrem rechten Partei vertreten sind, mit denen – wohlwollend auch allen CDU-Abgeordneten unterstellt – keiner kooperieren oder zusammenarbeiten will.

Diese Mehrheitsverhältnisse haben nun zur Folge, dass CDU und FDP bei der Durchsetzung (und auch Ablehnung) von Beschlüssen gegen den Willen von LINKE, SPD und Grüne darauf angewiesen sind, dass die AfD aktiv mit CDU und FDP eine gemeinsame Mehrheit bildet. Umgekehrt ist Rot-Rot-Grün bei der Durchsetzung (und auch Ablehnung) von Beschlüssen gegen den Willen der CDU und FDP darauf angewiesen, dass die AfD nicht mit CDU und FDP eine gemeinsame Mehrheit bildet. Einfacher formuliert: Die CDU und FDP sind für eine Mehrheit gegen Rot-Rot-Grün auf die Stimmen der AfD angewiesen. Rot-Rot-Grün braucht die Stimmen der AfD für eine Mehrheit gegen CDU und FDP nicht. Das mag eine sehr feinsinnige, die politische Problematik nicht mindernde Unterscheidung darstellen. Sie folgt aber einerseits den unzweifelhaft bestehenden Mehrheitsverhältnissen nach der Wahl und entspricht auch dem klassischen Rollen- und Funktionsverhältnis zwischen Oppositions- und Regierungsfraktionen.

Andererseits hieße diese Unterscheidung zu ignorieren, dass in der Konsequenz eine Fraktion, die wie die CDU nicht einmal ein Viertel der Abgeordneten des Landtages stellt, alleinig darüber entscheidet, was im Thüringer Landtag beschlossen wird, indem sie – denklogische Folge ihrer Skandalisierung und ihres praktischen Verhaltens im Thüringer Landtag  – Beschlüsse auf Initiative von Rot-Rot-Grün nur als politisch zulässig erachtet, wenn die CDU zur Mehrheit beiträgt, bei ihren Beschlüssen allerdings auf die Mehrheit in Abhängigkeit der AfD zurückgreifen kann.

Die Mehrheitsverhältnisse im Thüringer Landtag mit dem hohen Anteil extrem rechter Abgeordneter im Landtag stellen eine Herausforderung für die Demokratie und die demokratischen Akteure dar. Diese und die daraus erwachsenden Probleme werden umso größer, wenn sich die demokratischen Fraktionen nicht zu einem gemeinsamen Umgang in dieser Konstellation verständigen. Die Folgen daraus sind offensichtlich. Die politischen Parteien werfen sich wechselseitig unbeachtlich der jeweiligen Einordnung des Beschlusses und dessen Zustandekommens die Nutzbarmachung der AfD vor und zwar so lange, bis das Thema den Skandalcharakter verliert und der AfD ein weiterer Schritt der Normalisierung verschafft wurde. Kein Ausweg aus dieser Situation ist es, auf parlamentarische Initiativen zu verzichten und sich als Repräsentanten in der parlamentarischen Demokratie selbst seiner Rechte zu beschneiden. Die Folge wäre nicht nur ein Vertrauensverlust im eigenen Wählerklientel, sondern auch der Verlust an Vertrauen und Akzeptanz in das Parlament als demokratische Institution, die man ja dann der AfD als alleinigen Initiator von parlamentarischen Initiativen überlassen würde.

Sollte es der CDU und der FDP ebenso wie der LINKEN, der SPD und den Grünen ernst sein, die AfD nicht weiter stärken zu wollen, werden die demokratischen Fraktionen nicht umhinkommen, eine politische Verabredung zu treffen. Diese kann eine weitere notwendige Differenzierung von Beschlüssen aufgreifen, die schon heute in der politischen Bewertung von Abstimmungen, die nur mit Stimmen der AfD zustande kommen, praktisch Anwendung findet. Beschlüsse, die das Innenverhältnis des Parlamentes betreffen, bspw. Ausschussüberweisungen, Geschäftsordnungsauslegungen, Gegenstände von Untersuchungsausschüssen, Erfüllung von Berichtsersuchen, aber auch einfache Anträge, die keiner verfassungsrechtlichen Umsetzungspflicht unterliegen, sind von einer Verabredung, dass keine Gestaltungsentscheidungen für Thüringen getroffen werden, die nur mit den Stimmen der AfD zustande kommen würden, ausgenommen. Eine solche Verabredung würde dann ausschließlich die Gesetzgebung betreffen, setzt aber die Bereitschaft voraus, inhaltliche Differenzen auflösen zu wollen, anstatt diese zur politischen Blockade zu nutzen.